Eine persönliche Sicht auf den gemeinnützigen
Sektor
Einführung
Dieses Artikell beschreibt Beispielprojekte, die versuchen,
dringliche soziale und Umweltprobleme anzugehen. Vieles darin beruht auf
persönlicher Erfahrung oder Informationen von Kollegen in Deutschland.
Obwohl ich versuche, diese Projekte möglichst umfassend zu beschreiben,
ist es mehr oder weniger eine persönliche Sicht auf das, was ich als
eine sich in den Ursprüngen befindliche Bewegung sehe. Mehr und genauere
Informationen dazu enthält ein Buch der Stiftung Fraueninitiative
e.V. Köln, von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Carola
Möller "Wirtschaften für das 'gemeine Eigene'"
(Trafo
Verlag Berlin 1997) sowie eine Abeit von Karl Birkhölzer und Günther
Lorenz der Interdisziplinären Forschungsgruppe Lokale Ökonomie
an der Technischen Universität Berlin für EUROFORCOOP
"Der
Beitrag sozialer Unternehmen zur Arbeitsbeschaffung" (Berlin 1997).
Andere Menschen, die vielleicht aus der Feminismus-Bewegung
kommen oder aus der der kritischen Ökonomie, oder die kritische Sozialarbeiter
sind, werden vielleicht vieles anders sehen als ich. Die beschriebenen
Projekte sind wirklich sehr unterschiedlich und ein Zweck ist es, einen
Eindruck von dieser Vielfalt zu vermitteln. Was sie alle gemein haben,
ist, daß sie nicht in erster Linie gewinnorientiert sind und das
sie nicht Teil der traditionellen Wohlfahrtseinrichtungen sind. Wenn man
sie alle auf der lokalen Ebene miteinander verknüpft, stellen sie
das Frühstadium dessen dar, was es uns ermöglichen könnte,
das Sozial- und Wirtschaftsleben anders zu organisieren. Über den
Gedankenaustausch dann schließlich auf nationaler und internationaler
Ebene miteinander verknüpft, könnten sie vielleicht den Anstoß
zu großen sozialen Veränderungen geben.
Der Umfang der wirtschaftlichen Aktivitäten auf
Gemeinde-Ebene ist beträchtlich. In Europa erhalten 2,9 Millionen
Menschen Lohn oder Gehalt von der organisierten Sozialwirtschaft. (Eurostat-Untersuchung,
Birkhölzer und Lorenz S. 2). In Großbritannien hat ein Großteil
der Sozial- und Umweltprojekte den Status der Gemeinnützigkeit. Und
dieser Sektor beschäftigt etwa 400.000 Menschen mit einem Jahresumsatz
von L 12 - 16 Milliarden. (Bird J Let's do business for the underclass
London Guardian 29.11.1997).
Zahlen zur Erwerbsarbeit geben nur einen kleinen Einblick
in die Größe des Sektors, da viel mehr Menschen auf die eine
oder andere Art daran beteiligt sind. In Deutschland: "Der Selbsthilfesektor
wurde Mitte der 80er Jahre auf ca. 400.000 mit etwa 100.000 hauptamtlichen
und 300.000 ehrenamtlichen Mitarbeitern geschätzt." (Birkhölzer
und Lorenz S. 16). Aus einer Berechnung für Großbritannien,
veröffentlicht von der New Economic Foundation geht hervor, daß
anderthalb Millionen Menschen in Wirtschaftsinitiativen der Gemeinde arbeiten.
(zitiert in Mayo, Thake und Gibson Taking Power: an agenda for community
economic renewal. A Paper of the Neighbourhood Thinktank. Herausgegeben
von New Economic Foundation 1997 S. 16.
Die Menschen, die sich mit der Entwicklung solcher Projekte
beschäftigen, werden von vielen Dingen motiviert, diese beruhen in
der Regel aber nicht auf den Anschauungen, von denen die gängige Wirtschafts-
und Sozialpolitik bestimmt wird. Manchmal versuchen sie, ihre Bedürfnisse
direkt zu erfüllen, durch Selbst- oder Gegenseitigkeitshilfe. Manchmal
engagieren sie sich, weil sie wütend sind darüber, wie schlecht
für ihre Bedürfnisse gesorgt wird; und sie wollen beweisen, daß
sie dies besser können. Wieder andere machen mit, weil sie anderen
helfen wollen, aus einem Gefühl der Bürgerpflicht heraus. Vielleicht
auch, weil sie selbst oder Menschen, die sie kennen, jetzt oder in der
Vergangenheit tief von den Problemen, die gerade angegangen werden, berührt
wurden (Empathie). Und wieder andere haben Projekte im gemeinnützigen
Sektor gestartet, weil ihre Erfahrungen als Angestellte der traditionellen
Wohlfahrtseinrichtungen sie desillusioniert haben.
Diejenigen, die die Projekte , von denen hier die Rede
ist, ins Rollen bringen und sie vorwärtsbewegen, können auch
Gehaltsempfänger sein, dies garantiert ihre Kontinuität bei der
Arbeit, aber sie sind in der Regel nicht darauf aus, sich zu bereichern
- etwas, das, wie die Ökonomen sagen, die Wirtschaft vorantreibt.
(Obwohl es auch da Ausnahmen gibt und der korrumpierende Einfluß
der Wirtschaft immens ist - siehe Abschnitt zur Ethik in Kapitel 5.) Die
Handelnden in den Projekten dieses Kapitels sind vielmehr auf gute Praxis
und bessere Servicequalität bedacht .
Wie wir gesehen haben, sind die Orientierungssysteme
und Gedankenmuster, die in einer Gesellschaft vorherrschen, oft die der
mächtigsten sozialen Gruppen, und ihre Grundsätze in der Wirtschaftsideologie
formuliert. Diese Grundsätze sind, daß menschliche Bedürfnisse
auf einem profitorientierten Markt zu befriedigen sind und daß Menschen
auf diesem Markt miteinander konkurrieren müssen, um die Grundbedürfnisse
des Lebens zu decken. Aus dieser Sicht heraus sind Wohlfahrtsaktivitäten,
wenn sie überhaupt vorhanden sind, ein streng begrenztes Sicherheitsnetz
für Menschen, die davon abhängig sind. Dieses Sicherheitsnetz
steht nur in dem Maße zur Verfügung, in dem "die Privatwirtschaft
es sich leisten kann, dafür zu zahlen". Soweit möglich sollen
die Menschen selbst für dieses Netz zahlen - durch Systeme der Sozialversicherung
- während sie noch ökonomisch aktiv sind.
Die Idee des Wohlfahrtsstaates entstand als eine Art
historischer Kompromiß zwischen der sozialistischen und der Arbeiterbewegung,
deren Forderung war, daß der Staat die Sicherung der menschlichen
Bedürfnisse als Bürgerrecht sicherstellen sollte. Der noch ehrgeizigere
Gedanke, daß der Staat die ganze Wirtschaft nach den menschlichen
Bedürfnissen ausrichten könnte, ist gescheitert. Zurück
blieb die etwas eingegrenztere Anschauung, die jetzt auch in Gefahr ist
ist, daß der Staat denen, die nicht auf dem Weg der Erwerbsarbeit
für sich sorgen können, ein gewisses Sicherheitsnetz bietet.
Die in diesem Kapitel beschriebenen Projekte sind nicht
auf persönliche Bereicherung ausgerichtet, sondern auf das direkte
Lösen sozialer Probleme. Es ist so, daß einige der Projekte
auf dem Markt arbeiten oder versuchen, Rücklagen zu bilden. Die Projektentwickler
hoffen, damit zukünftig bedürftigen Menschen Arbeit und Hilfe
zukommen lassen zu können. Der Gewinn ist ein Mittel, das in Projekte
der Sozial- und Umweltarbeit gesteckt werden soll, nicht Mittel zum Selbstzweck.
Viele dieser Projekte sind Initiativen der Selbst- oder Gegenseitigkeits-Hilfe,
die auf dem sozialen, Wirtschafts- oder Umweltsektor an der Beseitigung
von Defiziten arbeiten. Andere wurden von Leitfiguren, Sozial- oder Gemeindearbeitern,
initiiert. In einigen Fällen folgen die Arbeiter der Initiative ihrer
Klienten. Alle haben begonnen, diesen differenzierten und schwierigen Weg
zu gehen, weil sie der Überzeugung sind, daß das soziale System
(und das Gesundheitssystem) versagen. Viele sind überzeugt, daß
auch die Wirtschaft versagt und die Weiterentwicklung dieses Sektors bei
der notwendigen Umwandlung der Gesellschaft in eine sozialere und umweltfreundliche
der entscheidende Aspekt sein muß.
Eine wachsende Zahl von angestellten und ehrenamtlichen
Sozial- und Gemeindearbeitern haben das Gefühl, keine Wahl zu haben,
nur auf diese Weise zu arbeiten. Sie haben begonnen, Erfahrungen und Gedanken
auszutauschen. Einige haben begonnen, sich selbst als Teil einer Bewegung
zu empfinden, die als Teil (oder Ganzes) einer Alternative zur Marktwirtschaft
gesehen werden kann. (Ich persönlich habe nicht das Gefühl, es
wäre notwendig, wünschenswert oder möglich, auf eine völlige
Abschaffung der Aktivitäten des privaten Marktes hinzuarbeiten.) "Eine
gemeinwesenorientierte Ökonomie umfaßt unterschiedlich organisierte
Projekte. Sie ist nicht an eine spezifische Lebensform gebunden. Der Begriff
bezieht sich eher auf die Motivationen und Absichten, die hinter dem Bemühen
um eine so orientierte Ökonomie stehen. Ein Ziel ist es, nicht länger
für die neo-liberalen Märkte zu produzieren, sondern sich schrittweise
daraus zu lösen" (Ulla Peters "Bilder einer am Gemeinen orientierten
Gesellschaft " in Wirtschaft für das 'gemeine Eigene', Berlin 1997
S. 39)
Nicht jeder Mensch ist so ideologisch. Jedoch ist die
Ansicht weitverbreitet, daß die Stärkung und Klärung des
Weges für diese Projekte, im Jargon der Europäischen Gemeinschaft
"der dritte Sektor" genannt, ganz entscheidend für die Erneuerung
des sozialpolitischen Modells für die europäischen Wohlfahrtsstaaten
sind.
Kritische Konsumenten werden Selbstversorger - Empowerment,
Selbsthilfe und Do-It-Yourself im neuen Wohlfahrtsstaat
In der Zivilisationsgeschichte waren die meisten Arrangements
für Menschen, die hilfsbedürftig und abhängig waren und
die nicht auf Hilfsstrukturen zurückgreifen konnten, strafend, autoritär
oder offen mörderisch. 275.000 Menschen fielen einer Mordkampagne
der Nazi-Psychiatrie zum Opfer. Das Todesurteil hing davon ab, wie ein
Fragebogen ausgefüllt wurde, der von 12 Psychiatrie-Professoren entwickelt
worden war. Die Geschehnisse damals wurden von Psychiatrie-Kollegen in
den USA gutgeheißen. Zum Beispiel rief ein Editorial des American
Journal of Psychiatry im Juli 1942 unter der Überschrift "Euthanasie"
dazu auf, bestimmte Patienten zu töten. Genauso ein Artikel der gleichen
Ausgabe vom Psychiater und Neurologen Foster Kennedy (Peter Breggin, "Toxic
Psychiatry" Harper Collins, London 1993 S. 128)
Der Horror ist nicht ganz verschwunden. Der Skandal gegen
Ende der 80er Jahre auf der griechischen Insel Leros, wo Patienten nackt
angekettet und aus Eimern begossen wurden, ist eines der vielen Beispiele
aus jüngster Zeit für den Mißbrauch von Menschen in staatlichen
Einrichtungen. Als ich am 14. Weltkongreß der sozialen Psychiatrie
1995 in Hamburg teilnahm, war die Liste der Fälle von Mißbrauch
und Schikane lang. Ein Beitrag von R. Beine handelte von der "Ermordung
der Patienten durch das medizinische Personal". In der Zusammenfassung
der Konferenz war zu lesen: "Offensichtlich hat die Bereitschaft des medizinischen
Personals, Patienten durch den Einsatz spezifisch medizinischer Mittel
zu ermorden, zugenommen. Das zeigen Fälle, die in den USA , Norwegen,
den Niederlanden, Österreich und Deutschland bekanntwurden."
Der Sozialismus als eine Ideologie für die allumfassende
Planung der Gesellschaft nach den menschlichen Bedürfnissen ist gescheitert.
Aber er erzeugte, zumindest in Zeiten des allgemeinem Wohlstands und der
Vollbeschäftigung in Großbritannien, Deutschland und anderswo
ein Modell eines Wohlfahrtsstaats, der Hilfsbedürftige schützt.
Das Problem war, daß dieser Wohlfahrtsstaat teilweise auf den Theorien
und Einrichtungen, die vor ihm da waren, basierte. Er wurde von Angestellten
betrieben, die durch einen autoritären Stil der Leistungs-Erbringung
geprägt waren, der auf der Annahme beruhte, daß die Angestellten
am besten wüßten, was gut wäre, und die Erwartung war,
daß die Betroffenen gehorsam und dankbar zu sein hätten.
Als der Londoner Guardian (8. November 1997) über
Mißbrauch in Pflegeheimen der katholischen Nonnen in Schottland berichtet,
zitiert er auch einen Anwalt, der 210 Fälle betreut. "Ein Muster des
körperlichen Mißbrauchs und der Demütigung zieht sich durch
all diese Heime. Die Kinder wurden mit Stöcken und Besenstangen geschlagen.
Strafen waren Folter - Kinder wurden in kochendes Wasser getaucht. Sie
wurden gezwungen, ungenießbares Essen zu sich zu nehmen, und wenn
sie sich ergeben mußten, das Erbrochene zu essen. Ich würde
das Regime sadistisch nennen. Einige Klienten sind tief traumatisiert worden
- für 30, 40 Jahre , ihr beruflicher Weg und ihr Familienleben ruiniert."
(Eine Beschreibung meiner eigenen demütigenden Erfahrung mit psychiatrischen
Einrichtungen und meine Analyse des dem zugrundeliegenden psychischen Zustands
vieler Angestellter der Psychiatrie ist nachzulesen in "Madness and its
Causative Contexts" in Changes, An International Journal of Psychology
and Psychotherapy, John Wiley and Sons, Bd. 12 Nr. 2 4/1994 S. 113-135.
Der Widerspruch lag in der Tatsache, daß der Wohlfahrtsstaat
auch die Volksbildung förderte. Daher haben immer mehr Konsumenten
dieser Art von giftiger Hilfe die Möglichkeit gefunden, über
ihre Erfahrungen zu schreiben, haben Verbündete gefunden, Gruppen
gebildet und sind effektive Kritiker geworden. Ein Jahr lang habe ich in
einem Projekt gearbeitet, das Hochschulabsolventen mit mehrfachen physischen
und psychischen Behinderungen bei der Arbeitssuche behilflich war. Meine
Kollegin war blind und zu 80% taub, hatte aber einen Abschluß in
Philosophie. Nach Jahren, in denen jeder annahm, sie könnte nie ein
unabhängiges Leben zu führen, zeigte sie allen, daß sie
es besser wußte, indem sie völlig allein lebte, mit nur gelegentlichen
Füsorge-Besuchen. Ihr Alptraum war, daß sie eines Tages zurück
in die institutionelle Pflege müßte, die sie von früher
kannte.
In der Bewegung ehemaliger Psychiatrie-Patienten in Nottingham
sind frühere Bankmanager, Ingenieure, Manager, Computerprogrammierer,
Vertriebsleute, Soziologie- oder Sozialpolitik-Absolventen. Ich bin ausgebildeter
Ökonom. Manchmal wurden diese Qualifikationen vor unserer Lebenskrise
erworben, manchmal nach der Genesung. Mit den eigenen Qualifikationen prahlen,
dafür ist in einer Empowerment-Bewegung kein Platz, denn es trennt
die Menschen. Dies sage ich, um zu beleuchten, warum autoritäre und
strafende Einrichtungen unter Druck gekommen sind. Menschen wie ich, deren
Leben und Seelen auseindergebrochen waren, haben bewiesen, daß sie
sehen können und sagen, welche Einrichtungen oder Dienste nicht helfen,
welche unnötig sind oder welche mehr Schaden anrichten als Gutes tun.
Wir haben die Methoden kritisiert, die uns keine Wahl lassen, die die grundlegendsten
Freiheiten, wie die, über den eigenen Tagesablauf, unsere Beziehungen
und unser Wohnumfeld zu bestimmen, einschränken. Die institutionellen
Methoden und Settings sonderten Menschen wie uns vom Rest der Gemeinschaft
ab. Bei den Insassen solcher Einrichtungen wurden Passivität und Abhängigkeit
eher größer als kleiner. Jedoch beginnen sich die Dinge nun,
nach einigen Jahren der Arbeit durch und für uns, zu ändern.
(Judi Chamberlin, "On our Own; Patient Controlled Alternatives to the Mental
Health System" Mc Graw Hill, 1979, Brian Davey, "Meaning, Madness and Recovery"
Clinical Psychology Forum, Nr. 103 5/1997).
Die Bewegung ehemaliger Psychiatrie-Patienten entstand
in Großbritannien Mitte der achtziger Jahre, inspiriert von der Patienten-Bewegung
in Holland. In den letzten Jahren hat sich diese Bewegung überall
auf der Welt verbreitet. Zuerst wurden solche Bewegungen für Menschen
mit Beeinträchtigungen vor allem organisiert, um die gesundheitliche
und soziale Betreuung für solche Menschen zu verbessern. In großem
Umfang wurden die Einrichtungen zur gesundheitlichen und sozialen Betreuung
in Großbritannien in eine andere Umgebung verlagert, "in die Wohnumgebung".
Aber diese örtliche Veränderung ist nur der Anfang. Jetzt, wo
Behinderte und psychisch Kranke, die nicht länger gefangengehalten
werden, zusammengekommen sind, Verbündete gefunden und angefangen
haben, ihre eigenen Projekte zu entwickeln, ist etwas viel Fundamentaleres
passiert.
Ein Großteil der Motivation dafür ist dem
wachsenden Zweifel darüber geschuldet, wieviel Veränderung die
Wohlfahrtseinrichtungen des Staates ertragen würden. Wenn solche Einrichtungen
von Menschen, die solche Probleme nie erfahren haben, geplant und geleitet
werden, muß man wirklich bezweifeln, wie gut sie wirklich sind oder
sein können. In der Wirklichkeit sieht es so aus, daß die Leiter
solcher Einrichtungen im sich zersetzenden Wohlfahrtsstaat an Innovation
nicht sehr interessiert sind. Sie sind an immer strengeren Maßnahmen
interessiert, um der Gefahr zu entgehen, von Politikern und der Presse
bei Vorkommnissen (Skandale wegen Kindesmißhandlung, Selbstmorde
bei Patienten usw.) getadelt zu werden. Ihre andere Sorge ist die, wo bei
bestehenden Aktivitäten und Budgets Geld gespart werden könnte.
Es gibt ein Lieblingszitat unter vielen Patienten psychiatrischer
Einrichtungen, von John O'Brien, ."Wenn denen, die das Sprechen nicht gewöhnt
sind, diejenigen zuhören, die das Zuhören nicht gewöhnt
sind, kann es wirkliche Veränderungen geben." Ich mochte dieses Zitat,
aber ich bin skeptischer geworden. Menschen, die es nicht gewöhnt
sind, das man ihnen zuhört, sind es nicht gewöhnt, ihre Wünsche
in kalkulierte Projektvorschläge zu formulieren, die nur noch in die
der des Zuhörens Ungeübten Planungsmaschinerie gegeben werden
müssen. Nach einigen Jahren scheint es mir, daß die Manager,
die jetzt ihren Willen zum Zuhören bekunden, indem sie zu Versammlungen
gehen, um ihren Patienten zuzuhören, gar nicht auf die Wünsche
ihrer Patienten reagieren können, wenn diese sagen, sie möchten
eine andere Art der Betreuung, eine, die die Manager nicht bieten können.
(Genauso, wie wenn Psychiatrie-Patienten in der Regel sagen, ihre Hauptprobleme
sind wirtschaftlicher und nicht medizinischer Natur.)
Wegen all dieser Dinge, nimmt der "beratende Dialog"
typischerweise die Form an, daß die Patienten auf das reagieren,
was die Manager festgehalten haben. Da sie nur wenig Zeit, Hintergrundmaterial
oder Möglichkeiten haben, nachzuforschen oder Alternativen vorzuschlagen,
auch keinen Zugang zur Planungsmaschinerie oder Kontakte, die es ihnen
ermöglichen würden, andere Vorschläge zu machen, kann sich
"Patienten-Empowerment" leicht in "Beratungen" über Pläne, die
die Manager sowieso schon vorhatten umzusetzen, zurückentwickeln.
Wenn diese Pläne eine vorweggezogene Schlußfolgerung sind, ist
die "Beratung" reduziert auf die Legitimierung dessen, was die Manager
möchten. Vor kurzem wurde auf einer solchen "Beratung" in Nottingham
beschlossen, daß einige Patienten mit nur sehr geringem Einkommen
das Recht auf kostenlose Mahlzeiten verloren, während dieselbe Einrichtung
die Nahrungsmittel für das sehr gut bezahlte leitende Personal in
ihrer eigenen Kantine bezuschußt. Die Manager konnten sagen, daß
sie die Patienten konsultiert hatten. Und auch als die Patienten protestierten,
änderte es doch nichts an der Sache. (Das erinnert an die klassische
Novelle von Charles Dickens Oliver Twist, vom Entsetzen eines gut
genährten Angestellten, als ein hungriges Waisenkind um mehr Essen
bat.)
Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma ist die Entwicklung
eigener Projekte durch die Patienten - Empowerment nimmt die Form von Selbsthilfe
an - zuerst sehr klein und langsam, aber dann immer stärker werdend,
je mehr Erfahrung, Kontakte und dann Mittel gewonnen werden. (Einschließlich
der Bereitstellung von Nahrungsmitteln.) Natürlich ist ein Haupthindernis
dafür, daß dies geschieht, fehlendes Verständnis, Konservatismus
und eingefangene Interessen des Personals in den staatlichen Einrichtungen.
Sich selbst erfüllende Prophezeiungen - wenn Betreuungseinrichtungen
das Versagen ihrer Patienten vorhersagen
Als ich begann, ein Projekt zu entwickeln, das sich mit
der Verbesserung der Umwelt befaßte, und das sich teilweise auf die
Patientenbewegung stützte, sagte mir der zuständige Leiter der
Psychiatrischen Einrichtung , daß er es nicht unterstützen würde.
Er sagte, es sei zu ehrgeizig. Es würde nichts bringen. Andere Verantwortliche
gaben im nachhinein zu, daß sie ebenso dachten, aber sagten nichts.
Als wir dann unsere Organisation, Ecoworks genannt, gründeten, brachten
wir ein starkes Team professioneller Leute zusammen: Architekten, Ingenieure,
Stadtplaner, und mich als früheren Ökonom. Einige der Beteiligten
waren Patienten, andere daran interessiert, in Nottingham einen Verein
für Alternative Technik zu bilden. Wir schlossen uns zusammen. Wir
haben eine erfolgreiche Organisation aufgebaut, obwohl das Vertrauen in
uns immer noch nicht so groß ist, daß wir eine Langzeitförderung
erhalten. Wenn wir oder unsere Verbündeten an die negative Einschätzung
der zuständigen Betreuer geglaubt hätten, wäre nichts passiert
und wir hätten versagt.
Zu viele Menschen glauben den für sie zuständigen
Betreuern und führen ein Leben der dämmernden Leere, unterbrochen
von Perioden des Grauens. Das Grauen ist, daß sie immer weiter nur
existieren werden und sterben, ohne richtig gelebt zu haben. Sie fliehen
in Phantasien und Tagträume.
Menschen, die von medizinischen und sozialen Einrichtungen
betreut werden, wird nachgesagt, weniger kompetent zu sein als sie wirklich
sind. Ihre Fähigkeiten zur Genesung, Weiterentwicklung, gegenseitigen
und Selbsthilfe sind systematisch unterschätzt, abgewertet, entmutigt
und unterdrückt worden. Und es ist wirklich beobachtet worden, daß
Menschen in der Dritten Welt sich in der Regel viel schneller von einem
Zusammenbruch erholen als die der Ersten Welt. Eine mögliche Erklärung
dafür ist, daß Menschen in der Dritten Welt nicht so schnell
hospitalisiert werden und Medikamente erhalten. Ihnen geht es wahrscheinlich
schneller besser, weil ihnen nicht so schnell "geholfen" wird und sie damit
weiter entmündigt werden. (Dr. Richard Marshall,
Review Article
in Asylum Vol. 8 No. 1, S. 37/38.)
Eine Hauptsache beim eigenen Empowerment ist das Wieder-Definieren
dessen, was wir als verletzbare Menschen wirklich brauchen. Bei den Gesundheits-
und Sozialeinrichtungen gibt es gewöhnlich eine Tendenz, unsere Probleme
auf eine Art zu definieren, die wirklich das reflektiert, was die Einrichtungen,
die uns betreuen, anbieten - und nicht das, was wir brauchen. Sicher ist
es so, daß ein Großteil von Wahnsinn und sozial chaotischem
Verhalten mit frühkindlichem und kindlichem Trauma zu tun hat und
daß es hilft, in der Lage sein zu können, diese Dinge zu interpretieren
und mit ihnen umzugehen. Doch unterschätzen die Einrichtungen systematisch
die destruktiven Auswirkungen der gesellschaftlichen Verarmung, spürbar
in der wirtschaftlichen, beruflichen und Wohnsituation, in der wir zu leben
gezwungen sind. Eine ausschließliche Fokussierung auf Therapien,
die vergangene Traumata klären, auf das Erlernen von Strategien, auf
den Zugang zu finanzieller Unterstützung und legalen schmerzlindernden
Medikamenten ist nicht genug. (Brian Davey, Upbringing and Psychosis:
An Afterword, in Changes, An International Journal of Psychology and
Psychotherapy, John Wiley and sons publishers Vol. 14 No. 1 Juni 1996;
Peter Breggin Toxic Psychiatry HarperCollins 1996, Peter Lehmann
Der
Chemische Knebel Lehmann Antipsychiatrie Verlag.)
Nachdem ich etliche Jahre als Projektentwickler in der
Patientenbewegung damit zugebracht habe, meine eigene Kritik der Psychiatrie
zu entwickeln, Workshops und Diskussionen dazu zu veranstalten, wie die
Psychiatrie anders organisiert werden könnte, schien es mir, daß
ich nichts erreichen würde. Obwohl ich sehr viele Verbündete
finden konnte und Artikel in angesehenen psychologischen Fachzeitschriften
veröffentlichen konnte, hörten die meisten Verantwortlichen und
Psychiater mir zwar höflich zu, aber nichts passierte. Zu Beginn der
neunziger Jahre schaute ich daher für meine Arbeit in andere Richtungen.
Sichtwechsel - das Beispiel von Atlantis
Aus persönlichen Gründen besuchte ich 1990 Berlin
und stieß auf ein Projekt namens Atlantis, das mit benachteiligten
Menschen arbeitete, auch solchen mit psychischen Problemen. Was ich sah,
inspirierte mich.
Die Gründer von Atlantis machten Wiedereingliederungsberatung
für junge Menschen in der allgemeinen Jugendberatung (ajb) im Berliner
Bezirk Kreuzberg. Die sozialen Probleme der Jugendlichen schienen ihre
Ursache eher in ihrer schlechten Ausbildung und fehlenden Jobs zu haben,
daher gingen die Sozialarbeiter der ajb daran, Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten
zu entwickeln, kombiniert mit sozialer Betreuung. Parallel dazu begannen
sie, ökologische Produkte und Leistungen anzubieten, mit dem Ziel,
ein Einkommen im neuen "ökologischen Markt" zu sichern. Eines der
ehrgeizigsten Atlantis-Projekte ist die Entwicklung eines geschützten
Wohnprojekts am Moritzplatz, gebaut mit ökologischen Modelltechniken.
Einige Jahre nach meinem Besuch ist Atlantis so gewachsen,
das es 450 Menschen beschäftigt oder ausbildet, viele von ihnen in
einer Kurzzeitausbildung oder in ABM-Programmen. Von Anfang an hat Atlantis
versucht, besser zu werden, daran zu arbeiten, durch marktorientierte Tätigkeit
Langzeitarbeitsplätze zu schaffen. Von Nachteil ist dabei, daß,
je mehr Atlantis sich in den Markt hineinbewegt, der damit verbundene Streß
und Druck größer werden. (1998 wurde Atlantis pleite gegangen
- siehe das im englische geschrbienen Texte ueber Berlin auch in diesem
Web site - Juli 1998)
In Berlin lernte ich eine Vielzahl anderer Projekte kennen,
mit denen Alantis kooperiert. Zum Beispiel das Projekt Kirchbauhof, das
sich mit ökologischer Sanierung und Ausbildung befaßt und das
Sprach- und interkulturelle Ausbildungsprojekt UnderstandingBus. Diese
drei Organisationen fördern eine europaweite Zusammenarbeit und arbeiten
mit Organisationen anderer Länder zusammen, die von europäischen
Programmen gefördert werden. Das Ziel ist, ein europäisches Netzwerk
von ökologischen und sozialen Bildungseinrichtungen zu entwickeln,
um die berufliche, soziale und ökonomische Integration von benachteiligten
Menschen zu fördern. Projekte aus ganz Europa arbeiten jetzt zusammen.
Besonders starke Verbindungen gibt es zu Spanien, wo Atlantis viele Partner
hat. Das Netzwerk wird "Evanet" genannt.
Das Beispiel von Ecoworks
Mein Arbeitgeber, die Nottingham Advocacy Group, gestattete
mir, der Entwicklung einer Organisation wie Atlantis in Nottingham Zeit
zu widmen. Später gaben wir unserem Projekt den Namen Ecoworks. Ecoworks
brachte die Erfahrungen der Patientenbewegung in Nottingham und die einer
Reihe von Spezialisten zusammen, die sich mehr auf dem Gebiet des Umweltschutzes
engagieren wollten, und die damals gerade dabei waren, einen Verein für
Alternative Technik in Nottingham zu gründen (Planer, Architekten,
Permakulturisten, Ingenieure, Akademiker).
Nach der Gründung von Ecoworks brachten wir Zeit
damit zu, uns umzuschauen, mit welchen Aktivitäten wir beginnen könnten.
Meine Kollegen und ich überschätzten uns und unterschätzten
die Probleme, die daraus erwuchsen, daß wir kein genaues Ziel hatten,
und wir brauchten auch Zeit, uns besser kennenzulernen, um einschätzen
zu können, was jeder von uns in der Lage war zu tun und wieviel Zeit
er hatte. Wir entwickelten gewisse grandiose Pläne, aus denen nichts
wurde und wurden dann realistischer. Wir erkannten, daß wir mit Kleinem
beginnen müßten, und dies dann schrittweise ausbauen. Wir entwickelten
uns zu einer Organisation, die ganz anders als Atlantis ist.
Da wir kein Kapital besaßen, begannen wir mit der
ökologischen Bewirtschaftung von Parzellen und Gärten von psychiatrischen
und Tageseinrichtungen. Wir erhielten etwas Geld von der örtlichen
Gesundheitsbehörde, um dies als Erholungsprojekt durchzuführen,
und konnten jemanden für zwei Tage in der Woche bezahlen. (Das Förderprogramm
hieß "Gemeinsame Finanzen"). Das war sehr weit von unserem Ausgangspunkt
entfernt, aber gab uns den Blick für die Realität zurück.
Man muß laufen, bevor man rennen kann, und kriechen, bevor man laufen
kann.
Alles begann sehr klein, und wenn es etwas gibt, was
ich betonen möchte, so ist es das: Klein und ruhig mit einem Projekt
anzufangen, das hilft dir, ein Team und Arbeitsbeziehungen aufzubauen,
es hilft dir, Erfahrung zu sammeln und langsam deine eigene Verwaltungsmaschinerie
aufzubauen, die die haben mußt, bevor du wirklich Geld bekommst.
Z.B. mußt du alle Mitglieder ein paar Jahre kennen, um zu wissen,
wer die Ehrlichkeit und Kompetenz hat, die Buchführung zu übernehmen.
Wenn man versucht, zu viel zu schnell zu machen, bringt das nur Frustrationen.
(Viele der Erfahrungen zur Projektentwicklung in Kapitel 6 kommt aus dieser
persönlichen Einsicht.)
In dieser Hinsicht ist es von größter Wichtigkeit,
lieber kleine praktische Dinge zu erledigen als grandiosen Plänen
hinterherzujagen, die auf der Illusion beruhen, daß die Gremien,
von denen Fördermittel kommen, einer kleinen, unbekannten Agentur
riesige Geldmittel zur Verfügung stellen.
Kurz danach fertigten wir ein Spezialfenster, das einerseits
die Funktion eines doppelt verglasten Fensters hatte, andererseits darin
Platz für ein Mini-Gewächshaus war. Es wurde im Arbeitskeller
eines Mitglieds von einer Gruppe von Frauen gefertigt, während die
Männer oben auf die Kinder aufpaßten. Von diesem winzigen Beginn
an gingen wir später daran, handwerkliche Aktivitäten zu entwickeln,
um bei Patienten Selbsthilfefähigkeiten zu entwickeln. Dabei achteten
wir auf das "Grüne", den Umweltschutz-Aspekt, und entwickelten die
Fähigkeit, Gebrauchswerte im Recycling-Prozeß zu schaffen, z.B.
Möbel zu reparieren. Noch einmal, es war nicht viel nötig, um
alles ins Rollen zu bringen, als wir entdeckten, daß der beste Platz
für solche Arbeiten wenig genutzte Werkstätten in bereits bestehenden
Tageszentren waren.
Es hat alles erstaunlich wenig gekostet. Die meisten
Unkosten werden von anderen Organisationen getragen. Wir machen mehr aus
dem Vorhandenen, indem wir für ihre Nutzer ein breiteres Angebot in
ihren Zentren sichern. Es kostet überraschend wenig, weil wir sehr
niedrige Arbeitskosten haben. Viele unserer Mitglieder sind aus nicht-finanziellen
Motiven dabei.
Das Regime ist sehr flexibel, paßt sich den verändernden
Bedürfnissen der Menschen an. Die meisten Arbeiten: Gartenarbeit,
Bauarbeiten geringen Ausmaßes, DIY und experimentelle Techniken,
Kunst- und stilistische Aktivitäten müssen nicht durchweg von
denselben Menschen verrichtet werden, es genügt, wenn eine ausreichende
Anzahl von Personen dabei bleiben. Daher ist es nicht schlimm, wenn Beteiligte
das Projekt verlassen oder neue Menschen dazukommen. Es ist kein Unglück,
wenn sich jemand wegen einer Lebenskrise eine Auszeit nimmt.
Während Ecoworks ein recht billiges Projekt war
und ist, wird doch immer Geld benötigt, um die Löhne zu zahlen.
Gegenwärtig wird ein Gärtner-Posten aus einem Programm des Gesundheitsministeriums
gezahlt, ein DIY-Organisator von Eco-Crafts wird für seine Tätigkeit
an drei Tagen der Woche von zwei Wohltätigkeits-Einrichtungen bezahlt:
- einer psychiatrischen und einer von Geschäftsleuten. Unterstützung
bei Verwaltungsarbeit und Buchhaltung wird von einem Auszubildenden geleistet.
Viel von der Entwicklungs- und Koordinierungsarbeit wurde vom Autor geleistet,
der als Projektentwickler für nur drei Tage pro Woche bezahlt wurde.
Insgesamt beläuft sich alles auf ungefähr 60.000 Pfund pro Jahr,
mit 50 bis 60 Beteiligten und 600 bis 700 freiwilligen Kontaktstunden pro
Monat in den Gärten, Werkstätten und bei der Verwaltung.
Zu der Zeit, zu der ich diese Buch schreibe, ist es unklar,
ob unsere Finanzierung, die auf einem Drei-Jahres-Programm beruht, ab Frühling
1998 von anderen Quellen abgelöst wird. Das vielleicht Frustrierendste
dabei ist, daß es viel billiger ist, ein so erfolgreiches Projekt
zu finanzieren als es die offiziellen Gesundheitseinrichtungen sind, und
daß es dennoch an der finanziellen Sicherung fehlt.
Ein ökologisches Textilprojekt in Nottingham arbeitet
auf ähnlicher Grundlage wie wir, ist im Augenblick aber noch dabei,
sich zu formieren. Wie Ecoworks entstand es aus Mitteln der Patientenbewegung,
begann mit einer bereits bestehenden kleinen Handarbeits- und Nähgruppe
Textilien zu recyceln. Langsam haben wir gelernt, zusammenzuarbeiten. Die
Nähgruppe reagierte auf meinen bürokratischen Wunsch, Treffen
mit Tagesordnungen abzuhalten, nicht begeistert. Mit der Zeit haben sich
die unterschiedlichen Arbeitsweisen aufeinanderzuentwickelt, haben wir
begonnen, zusammenzuwachsen, aber noch ist eine Menge zu tun.
Ecoworks zeigt, was alles möglich ist, wenn die
Patienten von Gesundheits- und sozialen Einrichtungen Verbündete von
außerhalb der institutionalisierten Sozialbetreuung und ihrer Arbeitsweisen
finden. Zur Zeit sind nur ein oder zwei Mitglieder von Ecoworks "offizielle"
Betreuer, und wir haben eine Firma geschaffen, die sich selbst mehr als
eine Umweltorganisation als eine psychiatrische ansieht - was Räume
schafft, wo eine echte soziale Integration stattfindet und mit stigmatisierenden
Vorurteilen darüber, was ehemalige Psychiatrie-Patienten können,
gründlich aufgeräumt wurde.
Das Potential für die Zusammenarbeit mit Verbündeten,
die noch nicht durch eine professionelle soziale oder medizinische Ausbildung
"verdorben" wurden, ist groß. Anstatt Menschen als "Fälle" mit
"Diagnosen" zu behandeln, sind die Beziehungen normale - obwohl am Anfang
mehr Zeit nötig ist, um diese Menschen zu verstehen, bei dem miserablen
Leben, das sie bis dahin hatten. Wenn man sich jedoch die Mühe macht,
mit ein wenig Einfühlungsvermögen und Geduld, zeigen die Ergebnisse,
daß es das ist, was die Psychiatrie-Patienten vor allem wollen -
von normalen Menschen als normal zu akzeptiert werden. Wenn sie, im Gegensatz
dazu, als "Fälle" mit "Diagnosen" behandelt werden, erfüllen
sie in diesen Rollen berufliche Erwartungen - eine Schlußfolgerung,
auf die meine Kollegin Irene von Ecoworks sehr schnell von selbst kam -
sie ist eine Ausbilderin in der Holzbearbeitung, keine Therapeutin oder
Sozialarbeiterin. (Studien in den USA zeigen, daß nicht ausgebildete
Leute oft besser zur Genesung beitragen. Siehe Loren Mosher, Ann Reifman
und Alma Benn Characteristics of Non Professionals serving as primary
therapists for acute schizophrenics. Hospital and Community Psychiatry
24(1973) und Loren Mosher und Alma Benn Community Residential Treatment
for Schizophrenia: A Two Year Follow Up Hospital und Community Psychiatry
29 (1978).
(In Nottingham gibt es für ehemalige Patienten weitere
Organisationen, z.B. ein Computer-Ausbildungs-Programm namens Bootstrap,
das nur von Patienten für Patienten betrieben wird. Solche Projekte
zeigen noch einmal, wozu Menschen fähig sind, wobei jedoch die Möglichkeiten
zur sozialen Integration fehlen.)
Empowerment, Selbsthilfe und Obdachlosigkeit
In den letzten Jahren haben Initiativen von solchen, verletzlichen,
Menschen gezeigt, das sie in der Lage sind, aufregende Dinge zu tun, wenn
sie die entsprechende Unterstützung bekommen. Z.B. haben inoffizielle
Einrichtungen, die eine Betreuung auf der Straße anbieten, eine Infrastruktur
geschaffen, die es Obdachlosen leicher machte, Selbsthilfe- und Empowerment-Organisationen
zu schaffen. Ein Vorreiter dabei: das Groundswell Netzwerk. Die Betreiber
glauben, daß es zur Beseitigung der Obdachlosigkeit nötig wäre,
bei Ausbildung, Beschäftigung und der Umwelt anzufangen. Dabei bestimmt
der Gedanke des Empowerments ihre Arbeit. Die ehrgeizigsten Projekte des
Netzwerks haben das Ziel, Obdachlose in DIY-Projekte in den Bau und die
Renovierung von Häusern zu integrieren, in die sie dann schließlich
einziehen. Beim Verfassen dieses Buches haben 500 Menschen in Selbsthilfeprojekten
von Gemeinden ihre eigene Wohnung errichtet und für 600 Menschen ist
die Unterbringung im Rahmen solcher Projekte geplant. (Dez. 1997) (Zahlen
aus: New Economic Foundation, zitiert in Mayo, Thake und Gibson S.16).
In einem weiteren Projekt sollen Obdachlose mit dem Internet vertraut gemacht
werden.
Die Hürden für eigene Bauprojekte sind beachtlich
- wie Finanzierung und Erhalt von Land und der Planungserlaubnis. Die Entschlossenheit
einiger Obdachloser, zu versuchen, diese Hürden zu überwinden,
ist eine Kombination aus einem wirklich verständlichen Mißtrauen
in die staatlichen Institutionen und einer radikalen und sozialkritischen
politischen Sichtweise. Die Dilemmas sind real - ohne die Unterstützung
durch mächtige soziale Institutionen wird dort wenig geschehen. Für
Obdachlose ist es jedoch schwer, Einrichtungen und Verantwortlichen, die
ihre Bedürfnisse oft negieren oder die sie vielleicht schikanieren,
freundlich gegenüberzustehen. Sie verstehen die radikale Kritik an
einer spießigen und Ellenbogengesellschaft und ihren Konsequenzen
für die Umwelt . Die Auffassung, daß bei der Versorgung der
Menschen mit Wohnraum und bei der Befriedigung anderer Bedürfnisse
nicht verschwenderisch mit Material und Energie umgegangen werden soll
und die Umwelt nicht zerstört werden sollte, leuchtet denen ein, die
wegen ihrer geringen Mittel an ständiges Improvisieren gewöhnt
sind.
Trotz allen Übels machen einige Initiativen überraschende
Fortschritte. Sie beweisen wieder einmal, daß skeptische staatliche
Organisationen mit ihrem Mißtrauen nicht recht haben. Eine Mitgliedsorganisation
des Groundswell-Netzwerks ist ein Projekt in Hull, das Giroscope genannt
wird. 1985 gegründet von jugendlichen Schul-Aussteigern als eine direkte
Antwort auf den Wohnungsmangel für junge Leute, brachte sie das Geld
auf, ein heruntergekommenes Haus zu kaufen, das von den jungen Leuten vorher
besetzt worden war. Bis zum Mai 1995 hatten sie 20 Häuser renoviert
und damit einige hundert Jugendliche mit Wohnraum versorgt. Sie hatten
sich mit Projekten in Deutschland, Belgien und Portugal verbündet.
Auch hatten sie den National Housing Award gewonnen und mehr als eine halbe
Million Pfund als Netto-Guthaben. Sie richteten viele kleine Firmen ein,
und viele Arbeiter und Freiwillige hatten gute Jobs bekommen. All das ist
mit 35 Pfund pro Woche, abzüglich 2 Pfund Urlaubs-Rücklage erreicht
worden. (Die Arbeit von Giroscope beschreibt Tony Gibson in The Power
in Our Hands Jon Carpenter, 1996).
Was Groundswell zeigt, ist, daß wenn die gesellschaftlichen
Einrichtungen bereit sind, Selbsthilfe und Empowerment zu unterstützen,
wichtige Fortschritte gemacht werden können. Ein deutsches Beispiel
ist die Genossenschaft am Beutelweg im Stadtteil Trier-Nord, die ich im
Herbst 1996 besuchte. Wie Susanne Elsen erklärte: "Sehr bald nach
der Aufnahme unserer Tätigkeit im Stadtteil Trier-Nord erkannten wir,
daß unter dem gegebenen Problemdruck gemeinwesen-orientierte Arbeit
in einem sozial-pädagogischen Verständnis keine Veränderung
der Lebensbedingungen bewirken kann." (Susanne Elsen, Gemeinwesenorientierte
Ökonomien: Das Beispiel einer Wohnungsbaugenossenschaft in Trier
in Religionen im Aufbruch, Hg. Bildungswerk der KAB Trier TAURUS-Institute
Trier, Ketteler Verlag, Bornheim, 1996 S. 68). Die materiellen, beruflichen
und Wohnbedungen der Einwohner mußten grundlegend verbessert werden.
Man begann, mit den Einwohnern darüber zu sprechen, wie die skandalösen
Bedingungen verbessert werden könnten. Vorgeschlagen wurde, auf das
Selbsthilfepotential der Einwohner zu setzen, die mit ihrer eigenen Arbeit
dazu beitragen könnten, guten und bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.
Als die Besitzer der Wohnungen den Ärger und die Frustrationen ihrer
Mieter immer stärker unangenehm spürten, waren sie bereit zu
verkaufen. Eine Wohnungsgenossenschaft wurde gebildet, die das Land kaufte
und europäische Fördermittel für die Sanierung sicherte.
Nach zehn Jahren vielfältiger sozialer und Kulturarbeit in diesem
Gebiet, wofür der Grundstein gelegt wurde, wurde das Projekt schließlich
ein Erfolg. Es mußte jedoch eine Reihe von technischen, institutionellen
und finanziellen Hindernissen überwunden werden - eine sehr kraft-
und zeitraubende Arbeit für diejenigen, die den Prozeß vorantrieben.
Die Selbsthilfebewegung
Der Hintergrund und die Erfahrung der Verbündeten
liegt oft in ihrem früheren Engagement in Selbsthilfeinitiativen.
Da sich die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen verschlechtert haben,
muß auf den Erfahrungen der Vergangenheit aufgebaut werden, um denen
zu helfen, die von einem anderen Ausgangspunkt aus beginnen. Viele Leiter
innovativer Sozialprojekte in Berlin waren Teil der Hausbesetzerbewegung,
die ihre eigenen Wohnungen ausbauten und mit neuen wasser- und energiesparenden
Umwelttechniken experimentierten.
Eine Liste der Initiativen in Deutschland 1988 zeigte,
wie sich die Selbsthilfebewegung ausgeweitet hatte. Eine ähnliche
Liste würden wir auch für Großbritannien finden. Zu der
Zeit entwickelten sich Projekte für das Wohnumfeld (bezahlbaren Wohnraum
für junge und alte Menschen und Familien, Gemeindezentren, Verkehrsberuhigung,
Energiesparen, Recycling, Nachbarschaftshilfe usw.), für das Arbeits-
und Finanzumfeld (Bereitstellung von Arbeitsräumen, geschützte
Arbeitsplätze, Kredit- und Finanzberatung, Organisationsberatung,
Ausbildung, Hilfe für Arbeitslose), für Bildung und Kultur (sozio-kulturelle
Zentren, freie Schulen, Wohngebietszeitungen, Bürgerradio, Erwachsenenbildung
usw.), für Sozial Benachteiligte (Jugendklubs, Frauenzentren, Frauenhäuser,
Gesundheits- und Beratungszentren, Selbsthilfegruppen für ältere
Menschen), für aus verschiedenen Gründen diskriminierte Menschen
(kulturelle und Begegnungsstätten für Ausländer oder Angehörige
von ethnischen und anderen Minderheiten, Hilfsorganisationen für Obdachlose,
Vorbestrafte, Asylbewerber) und für Kranke und für geistig und
körperlich Behinderte (Gesundheitszentren, therapeutische Selbsthilfegruppen,
Therapiezentren im Wohngebiet, Rehabilitationseinrichtungen). (Vilmar,
F. und Runge, B. Handbuch Selbsthilfe Frankfurt/M., zitiert in Birkholzer
und Lorenz, S. 12.
In den frühen siebziger Jahren waren die Initiativen
oft klein und füllten die Versorgungslücke im Wohlfahrtsstaat.
In dem Maße, wie sich die wirtschaftlichen Bedingungen verschlechtert
haben, sind die Projekte jetzt oft ehrgeizigere Versuche, zielgerichteter
auf Arbeitslosigkeit und Armut zu reagieren. Da der Wohlfahrtsstaat bröckelt,
taucht die Frage auf, ob dieser sich entwickelnde Sektor als Ausgangspunkt
für Veränderung und Erneuerung gesehen werden sollte.
Natürlich ist diese Ansicht nicht weitverbreitet.
Die meisten Selbsthilfeprojekte haben einen streng begrenzten Rahmen von
Zielen. Jedoch haben schon in den Anfangsstadien einige Projekte eine breitere
Vision von sozialen (und umweltpolitischen) Veränderungen. Nach Birkhölzer
und Lorenz gehörte die Einrichtung von Kinderläden zu den ersten
Beispielen des neuen Phänomens der "sozialen Unternehmen" dieser Art
in Deutschland.
"Kinderläden enstanden aus der Kritik an der Leistung
der öffentlichen Kindertagesstätten, die neben dem Erziehungsstil
vor allem auch die mangelnde Anpassung an die Bedürfnisse der Eltern
betraf in Bezug auf Öffnungszeiten, Betreuung und Ausstattung, worunter
vor allem die Alleinerziehenden sowie die berufstätigen oder in Ausbildung
befindlichen Mütter zu leiden hatten. Die ersten Kinderläden
in Berlin wurden 1969 von jungen Frauen initiiert, die sich von der Teilnahme
an Aktionen nicht ausschließen lassen wollten." (Birkhölzer
und Lorenz, S. 10-11).
Einen großen Einfluß auf die Entwicklung
relevanter und nicht-patriarchaler Einrichtungen hatte die Frauenbewegung.
Carol Möller argumentiert: "Nicht die Linken, sondern die Feministinnen
sind es, die eine nicht patriarchale Ökonomie ausgehend von der (Wieder-)Herstellung
des materiell, psychisch und kulturell Notwendigen und Wünschenswerten
denken." (Carol Möller Überlegungen zu einem gemeinwesenorientierten
Wirtschaften in"Wirtschaften für das 'gemeine Eigene'", Trafoverlag,
Berlin 1997 S. 17.) Möller setzt dies in Beziehung zu dem zentralen
feministischen Thema der unbezahlten Arbeit von Frauen. Das Buch, aus dem
ich zitierte, enthält 29 Beispiele von Selbsthelfeprojekten von Frauen:
Kulturprojekten, Gesundheitszentren, autonomen Zentren als Begegnungs-
und Beratungspunkte, mit angeschlossenen Bars und Cafès; Netzwerke
zu rechtlichen und finanziellen Fragen; Beratung, Hilfe und politisches
Engagement für weibliche Migranten; geldlose Austauschsysteme; Ferienprojekte;
Handwerks- und Ausbildungsprojekte in traditionell männlichen Berufsdomänen.
Eine Bewegung erkennt ihre Bedeutung für die Ökonomie
und Ökologie
Im November 1992 wurden in Berlin ein internationales
Symposium und eine Projektmesse zusammen von der Organisation Zukunft im
Zentrum und dem interdisziplinären Forschungsprojekt zur lokalen Ökonomie
an der Technischen Universität Berlin organisiert. Projekte der Sozialökonomie
aus ganz Europa waren gekommen, um voneinander zu lernen. Obwohl es als
Konferenz zur Beschäftigung und wirtschaftlichen Regenerierung in
Krisenregionen angekündigt war, beschäftigten sich die Projekte
und Unternehmen, die angereist waren, vor allem damit, Beschäftigung
durch soziale und ökologische Aktionen auf lokaler Ebene zu schaffen.
Durch Konferenzen wie diese hat die Bewegung von Selbst- und gegenseitiger
Hilfe ein eigenes Bewußtsein entwickelt, einen Platz in der Wirtschaft
und ihre Bedeutung für die Umwelt entdeckt.
Es gibt viele Theorien und Herangehensweisen, die sich
mit überlappenden Konzepten wie "lokale Ökonomie", "soziale Ökonomie"
und "gemeinwesenorientierte Ökonomie", "Entwicklung ökologischer
Nachbarschaften", "ökologische urbane Umgestaltung", "Gemeinwesen-Regeneration"
und "Empowerment-Projekte". Obwohl alle diese Projekte und Organisationen,
die sich hinter diesen Schlagworten verbergen, sehr verschieden sind, sind
sie doch klar ein Teil des wirtschaftlichen Lebens. Es sind Organisationen,
die sich aus dem Versagen von Wirtschaft und Sozialpolitik heraus entwickelt
haben. Sie sind unter schwierigen und unvorteilhaften Bedingungen gewachsen,
weil weder die lokale noch die gesamtstaatliche Politik darauf zugeschnitten
sind, diesen neuen Sektor zu unterstützen oder oft eine ambivalente
Haltung dazu zu haben. Nicht zu vergessen auch, daß ein Teil dieses
Sektors aus der bitteren Kritik an der Gesellschaft entstand.
Die Menschen, die hinter der Berliner Konferenz 1992
standen, waren ursprünglich Mitglieder einer Selbsthilfegruppe für
arbeitslose wissenschaftliche MitarbeiterInnen und StudentInnen der Arbeits-
und Berufspädagogik der Freien Universität Berlin. Als sie sich
umschauten, wie sie ihre Situation ändern könnten, wurden sie
von früheren Aktionen in Großbritannien inspiriert, wo radikale
Gemeindearbeiter zu der Schlußfolgerung gelangt waren, daß
der Zerfall von Gemeinden nicht gestoppt werden kann, solange nichts gegen
den Jobverlust in der ansässigen Industrie getan würde. Viele
der Vorkämpfer dieser Projekte (z.B. beim Netzwerk von Zentren für
Arbeits- und Gemeindeforschung und -mittel) gingen gegen Ende der 70er
und zu Beginn der 80er Jahre in die Lokalpolitik. Sie versuchten, Wirtschaftsstrukturen
für bestimmte Gebiete zu entwerfen - am meisten spürbar in Sheffield
und dem Großraum London, bevor sie von der konservativen Regierung
abgeschafft wurden. Ähnliche Projekte in Berlin entwickelten ähnliche
Gedanken weiter.
Einige der Initiatoren des Berliner Symposiums 1992 hatten
sich lokal in PAULA organisiert. "PAULA ist ein Projektverbund aus den
gemeinnützigen Vereinen PAULA e.V., Kommunales Forum Wedding e.V.
und Technologie-Netzwerk Berlin e.V. mit der PAULA Werke GmbH. In diesen
vier Projekten versuchen die Mitglieder, Wege zu finden, wie Menschen,
an den Bedürfnissen und dem Bedarf am Ort orientiert, Arbeisplätze
aufbauen können. PAULA bietet eine Reihe von Leistungen an, die sich
an den Bedürfnissen vor Ort orientieren. Das umfaßt Beratung
und Ausbildung für Arbeitslose, ein Nachbarschaftszentrum, Sozialpflege,
eine Cafeteria, einen Graphik-Service, eine Arbeitslosenzeitung und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.
(Möller u.a. S. 134/135 und Birkhölzer und Lorenz S. 32/33).
Die Organisatoren dieser Gruppen haben ein detailliertes
Modell erarbeitet, das die besten Bedingungen aufzeigt, unter denen die
Entwicklung lokaler Selbsthilfearrangements möglich ist, die die Bedürfnisse
der dort Lebenden durch Arbeit von Arbeitslosen befriedigen. Das Modell
wurde aus Forschungsergebnissen über Projekte in ganz Europa, vor
allem jedoch aus Großbritannien, entwickelt. Es hat eine große
Rolle bei der Entwicklung eines europäischen Netzwerks zur wirtschaftlichen
Selbsthilfe und lokalen Entwicklung gespielt. Das Netzwerk geht über
die Entwicklung von Einzelprojekten hinaus, sondern versucht, so schnell
wie möglich ein Netz von Aktivitäten nach diesem Entwicklungsmodell
der lokalen Ökonomie zu entwickeln. (Karl Birkhölzer Local
Work for Local Needs in: "Lokale Ökonomie - Beschäftigungen
und Strukturpolitik in Krisenregionen. Ein Internationales Symposium".
Hg. IFP Lokale Ökonomie an der TU Berlin, Berlin Debatte - GSFP Berlin,
1994.)
Obwohl Berliner Projekte eine führende Rolle gespielt
haben, besonders beim Zusammenbringen von Menschen, waren sie doch nicht
die einzige Quelle der Inspiration für diese Denkweise, die sich herausbildete.
Auf der 1992er Konferenz kamen eine Reihe verschiedener Trends zusammen,
und beim nächsten Symposium 1994 beim Bauhaus Dessau war die Konvergenz
noch größer. Dort gab es auch mehr Teilnehmer aus Ostdeutschland
und Osteuropa, die nach Lösungen für Probleme suchten, die durch
die sozialen und wirtschaftlichen Erschütterungen nach dem Zusammenbruch
des Kommunismus entstanden waren. Eine neue radikale Tagesordnung entstand.
(Wirtschaft von unten - People's Economy. Beiträge für eine
soziale Ökonomie in Europa Hrsg. Stiftung Bauhaus Dessau und Europäisches
Netzwerk für ökonomische Selbsthilfe und lokale Entwicklung,
Januar 1996.)
Auf zwei Dinge stieß ich das erste Mal auf diesen
Konferenzen, zum ersten der Gedanke der Tauschbörse (oder im Englischen:
LETS) und ein Konzept der Nachbarschaftsentwicklung, das Planning for
Real (Planung für die Wirklichkeit) genannt wird.
Tauschbörse
Bei der Entwicklung der Selbst- und gegenseitigen Hilfe
wuchs die Einsicht, daß es neben den Bedürfnissen vor Ort auch
ungenutzte Mittel gibt und daß es organisatorisch möglich sein
sollte, ungenutzte Arbeit zur Befriedigung der Bedürfnisse vor Ort
zu nutzen. Eine der erfolgreichsten Möglichkeiten, dieses Problem
zu lösen, breitet sich nun immer mehr in Deutschland, Großbritannien
und anderswo aus - LETS-Systeme oder Tauschbörsen. Gegenwärtig
wird die Zahl der LETS-Mitglieder in Großbritannien auf 35.000 geschätzt
(Mayo, Thake und Gibson Taking Power S. 16).
Ein Tauschbörsen-System schließt die Lücke
zwischen der Hilfe in der Familie und den kommerziellen Angeboten und hilft
beim nachbarschaftlichen Austausch. Man muß wissen, wer sich daran
beteiligen und was wer anbieten kann. Dann wird ein Rundschreiben oder
eine Wandzeitung und eine gute Mund-zu-Mund-Propaganda gebraucht. Sonst
gibt es keinen Austausch. Auf diese Weise können Menschen direkt miteinander
tauschen. Oder sie können in den Einheiten der Tauschbörse "zahlen".
Das sind Einheiten, wie sie Familien im Babysitter-Ring benutzen - obwohl
es keine realen Münzen oder Einheiten sind. Man führt ein Konto
mit Scheckbuch. Gezahlt wird durch Ausschreiben eines Schecks für
jede Transaktion, die an die Person geht, die den Service leistet. Sie
schickt ihn dann zum Buchhalter. Die für den Service vereinbarte Summe
wird dem Konto gutgeschrieben und vom Konto des Nutzers abgezogen. Ein
Scheck kann immer ausgeschrieben werden, ungeachtet dessen, ob das Konto
des Nutzers im Plus oder Minus liegt. Regelmäßig erhalten die
Mitglieder einen Kontoauszug mit den Kontobewegungen und dem -stand. Jeder,
der einer Tauschbörse beitritt, zahlt einen geringen Jahresbeitrag
dafür, doch sind die Tauschbörsen bestrebt, auch den Verwaltungsaufwand
durch Verrechnungseinheiten zu begleichen.
Tauschbörsen haben sich als sehr erfolgreiches Mittel
zur Lösung einer Vielzahl von sozialen Problemen bei knappen Ressourcen
erwiesen. Eines der spektakulärsten Beispiele wurde von einem ehemaligen
Psychiatrie-Patienten im englischen Beckminster bekannt. Harry Turner,
wie ich ein ehemaliger Psychiatrie-Patient, lebte zufällig im gleichen
Gebäude mit Menschen, die sich daranmachten, das System der Tauschbörsen
im ganzen Land zu verbreiten. Nachdem er es selbst genutzt hatte, überzeugte
er weitere Psychiatrie-Patienten, Mitglied zu werden.
Harry erklärte all das auf einer Konferenz zum Thema
"Psychische Gesundheit und Tauschbörsen", bei deren Vorbereitung er
half. Er sprach davon, wieviel Angst die meisten von ihnen hatten, als
sie das erste Mal zu einem Tauschbörsen-Treffen gingen und alle anderen
Mitglieder noch nicht kannten. Jedoch nahm eine kleine Gruppe ihren Mut
zusammen und ging hin. Einer aus der Gruppe war ein Mann, der - wie so
oft üblich - von seinen Ärzten und Betreuern als unfähig
abgeschrieben war. Den Gedanken einer Tauschbörse verstand er plötzlich,
als ihm einige Verrechnungseinheiten dieser Tauschbörse angeboten
wurden, wenn er nach dem Treffen abwaschen würde. Innerhalb weniger
Wochen war sein Tauschangebot an die Tauschbörse ein Auto-Pflegedienst.
Inzwischen hatten die anderen Mitglieder der Gruppe, die auch an dem Treffen
teilgenommen hatten, mit einer Reihe von Therapeuten gesprochen, die Massage,
Aromatherapie, Reflexzonenmassage und Akupunktur anboten. In nur kurzer
Zeit hatten sie einen alternativen Therapiedienst für drei Tage pro
Woche organisiert, der für Monate ausgebucht war - und das alles ohne
Geld. Die Therapeuten werden auch in der dort üblichen Verrechnungswährung
bezahlt. Psychiatrie-Patienten, die den alternativen Therapiedienst nutzen
wollen, müssen für sich selbst Verrechnungseinheiten erwerben,
durch Garten- oder Hausarbeit. Neben der beruhigenden und therapeutischen
Wirkung z.B. einer Massage, haben die Patienten neue Beziehungen zu Mitgliedern
der Tauschböse aufgebaut und auch einen Platz für Arbeitsaktivitäten
gefunden. Sie haben sich selbst geholfen, Isolation und Inaktivität
zu durchbrechen, die so oft bei sozial isolierten Menschen einen psychischen
Zusammenbruch auslösen kann. "Psychiatrie und Tauschbörsen" ist
ein Phänomen in Großbritannien, das wächst.
Ähnliche Projekte, die den "Austausch von Zeit"
umfassen, sind auch Kennzeichen von Projekten der gegenseitigen Hilfe für
ältere Menschen. Ein Beispiel ist ein Projekt wie das "Aktive Senioren
Mannheim e.V.". Noch aktive ältere Menschen bieten anderen älteren
Menschen eine Reihe von Dienstleistungen an, damit diese in ihren Wohnungen
und so lange wie möglich selbständig bleiben können und
den Kontakt zu Jüngeren behalten. Zu den Aktivitäten, die im
Rahmen eines persönlichen Zeitkontos festgehalten werden, gehören:
Handwerksarbeiten und kleinere Reparaturen, Besuche und Begleitung bei
Spaziergängen, Begleitung zum Arzt oder Krankenhausbesuche, Näharbeiten,
Büroarbeit, Kinderbetreuung. Diese Zeitguthaben können dann in
Anspruch genommen werden, wenn die Person später selbst Hilfe braucht.
(Carola Möller u.a. S. 90)
Modelle zur Nachbarschaftsentwicklung
Ein weiterer Teilnehmer an der Berliner Konferenz 1992
war Dr.Tony Gibson, der sein Konzept zur Nachbarschaftsentwicklung mit
dem Namen "Planning for Real" erklärte. Dies wird in den Kapiteln
5 und 6 näher erläutert. Als ich mich mehr mit Netzwerken lokaler
Ökonomie beschäftigte, lernte ich Tony Gibson kennen und wurde
zu einem "Neighbourhood Think Tank" eingeladen. Der Think Tank nutzt ein
Modell zur systematischen Entwicklung nachbarlicher Gemeinschaften durch
und für die Menschen und zeigt, wie dies vom politischen System gefördert
werden kann. (Mayo E., Thake S und Gibson T. Taking Power: An Agenda
for Community Economic Renewal. A Paper of the Neighbourhood Think Tank
Hrsg.
von der New Economics Foundation 1997). Wir haben experimentell versucht,
eine Methodik für die Arbeit in Nachbarschaften mit starken sozialen
und ökonomischen Problemen, wie z.B. dem Teviot-Gebiet in London und
gegenwärtig (1997) dem Stanfield-Gebiet in Stoke on Trent zu entwickeln.
(Ich war für ein Jahr Leiter des Management-Komitees des Stanfield-Projekts.)
Kennzeichen des Modells zur Entwicklung von Nachbarschaften
sind: 1. Erweiterung des Horizonts, indem die Menschen Kontakt mit ähnlichen
Gruppen wie ihrer finden, deren Projekte erfolgreich waren. 2. ein Überblick
über die in der Nachbarschaft vorhandenen Talente und Fähigkeiten,
um zu erkennen, wer bei der Durchsetzung von Projekten helfen könnte.
3. ein Rundschreiben 4. kleine Förderzuschüsse, um für die
Anfangskosten aufzukommen und 5. eine Planungssitzung mit allen Beteiligten
mit Vorschlagskarten zu einem Modell, um eine allgemeine Vision zu entwickeln.
Beim Ausprobieren des Modells in Teviot und Stanfield
ergaben sich noch viele zusätzliche Probleme - das Arbeiten ohne ein
lokales Zentrum ist schwierig, Bedenken wegen der Sicherheit der Arbeiter
und Anwohner, wenn es in einem Gebiet viel Kriminalität gibt, Schwierigkeiten
bei der Arbeit ohne adäquate Unterstützung durch die kommunalen
Behörden; von zentraler Bedeutung ist das Finden guter Mitarbeiter,
auch ortsansässiger - die helfen können, wenn sich ein von anderswo
gekommener Mitarbeiter zurückziehen muß. Das für mich größte
Problem war einfach die Menge an Zeit, die dafür aufgewendet werden
mußte.
Soziale Innovationen nach der deutschen WIEDERVereinigung
1996, nachdem ich an einer Reihe von Diskussions-Workshops
mit Kollegen der Bauhaus-Stiftung Dessau teilgenommen hatte, arbeitete
ich auf Einladung des Direktors der Akademie 6 Monate dort. Meine Arbeit
war die Entwicklung nachbarschaftlicher Gemeinwesen im Dorf Vockerode und
in der Stadt Wolfen, beide in der Nähe von Dessau.
Das Bauhaus ist eine Institution mit Angestellten, zu
deren Aufgabe gehört, die historische Rolle des Bauhauses als berühmte
Designschule der 20er und frühen 30er Jahre zu erhalten und zu bewerten.
Das jetzige Bauhaus hat durch die Regionalstrategie für ein "Industrielles
Gartenreich" eigene Ideen in die Suche nach neuen Ansätzen eingebracht.
Dessau und seine Umgebung sind gezeichnet durch sehr giftige und häßliche
Umweltzerstörung, durch Kohlenförderung und Tagebaue, als Ort
der chemischen Industrie und Energieerzeugung. Aber dieses Gebiet hat auch
eine Geschichte als Ort bahnbrechender Reformen. Nicht weit von Dessau,
in Wittenberg, hat Luther seine berühmten Thesen an ein Tor einer
katholischen Kirche angeschlagen; Thesen, die den katholischen Glauben
erschütterten. In einem späteren Jahrhundert machte sich der
reformatorische Prinz Fürst Franz Leopold daran, einen Modellgarten
für seine Untergebenen einzurichten. Die Inspirationen dafür
nahm er aus dem progressivsten Gedankengut, das in Europa zu finden war.
Im 20. Jahrhundert war das Bauhaus selbst Vorreiter auf den Gebieten von
Design, Kunst und Architektur der Moderne in einem Gebiet, das zu der Zeit
zu dem führenden Industriegebiet Deutschlands zählte. Das jetzige
Bauhaus versucht, diese historischen Paradoxen bei ihrem Herangehen an
die Regionalentwicklung zu reflektieren. (Harald Kegler Eine Region
mit Zukunft. Das Programm industrielles Gartenreich Dessau-Bitterfeld,
in
Regionen im Aufbruch, Ketteler Verlag GmbH, Bornheim 1996).
Insbesondere wollten meine Kollegen viele der Bauten
aus der industriellen Ära erhalten. Die Veränderungen vollzogen
sich so schnell, daß das Abreißen der Orientierungspunkte des
alten Systems bedeutet hätte, der Bevölkerung praktisch überhaupt
keine kulturellen Bezugspunkte zu hinterlassen, ihnen den Sinn für
die Werte der Vergangenheit zu nehmen, in ihrem Kampf um Neuorientierung
in der neuen Wirtschafts- und Sozialordnung.
Der Kontext sind die riesigen sozialen und psychologischen
Probleme, die sich aus der Massenarbeitslosigkeit nach der Wiedervereinigung
ergeben hatten. Während ich dort 1996 arbeitete, erzählten mir
die Menschen von der weitverbreiteten Desorientierung, Elend und Frustration
in einer Zeit, wo die alten Industriezweige wie die Filmherstellung, Kohlen-Tagebau
und Energieerzeugung zusammenbrachen. Nach einem Leben, in der die Arbeit
in der Industrie ein sicherer und fester Bestandteil des täglichen
Lebens für Männer als auch Frauen war, fiel sie plötzlich
weg. Auch die arbeitsplatzgebundenen Sozialorganisationen verschwanden.
Viele Menschen wurden und werden durch das erzwungene Zu-Hause-Bleiben
leise verrückt, durch die Disorientierung, hervorgerufen durch den
Verlust der vertrauten Muster des alltäglichen Lebens (und, bei einigen,
durch den damit verbundenen Zusammenbruch des kommunistischen Denksystems).
Oder sie stehen herum, an den Supermärkten und Imbißbuden, und
betäuben das Elend mit Alkohol. In vielen Fällen müssen
sie sich in psychiatrische Behandlung begeben.
Wie bereits erklärt, verschmelzen Umgebung, Beziehungen,
Gesundheit und wirtschaftliche Arrangements in einem mehr oder weniger
geregelten Alltagsmuster, und die Menschen finden darin ihre Orientierung.
Die Orientierung an diesem Muster ist etwas, was wir alle als Individuen
durchmachen - teilweise geformt durch, obwohl manchmal auch im Aufbegehren
gegen, unsere Schulbildung und die offiziellen Institutionen, die für
unsere Erziehung errichtet worden waren. In der früheren DDR bedeutete
Gleichheit in einem autoritären Gesundheits- Bildungs- und Kindergartensystem
in Wirklichkeit Uniformität und Konformität, um auf die Rolle
als Arbeiter vorzubereiten. In einem kürzlich erschienen Artikel über
die Sonderausstellung im Deutschen Hygienemuseum Dresden
Wenn Mutti
früh zur Arbeit geht, können wir lesen, wie es für kleine
Kinder war. "Das Kollektiv stand über allem - Ordnung, Pflichterfüllung,
Gehorsam wurden zum Maßstab...Wie ein "Bildhauer" sollten sie die
Charaktere formen, anstatt sie wachsen zu lassen wie ein Gärtner seine
Pflanzen". (Mitteldeutsche Zeitung 14. Juli 1997)
Es war ein System, in dem der Raum für Eigeninitiative
und die Fähigkeit, unabhängig zu denken und handeln, nicht gewollt
war, da er schnell gegen Partei- und Staatsdisziplin aufbegehren würde.
(Hans Joachim Maaz Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR.
Knaur Verlag 1992).Der Raum für Eigeninitiative wurde auch begrenzt
durch die Einheitlichkeit der Lebensbedingungen. Natürlich gibt es
da auch einen anderen Aspekt. Einige Menschen empfanden es in gewisser
Weise als eine Herausforderung, durch Improvisation mit dem begrenzten
Material und durch gegenseitige Hilfe zu versuchen, die Lebensbedingungen
zu verbessern. Es gibt Menschen, die dadurch eine Vielzahl praktischer
Fertigkeiten erwarben. Auf diese andere Tradition könnte man aufbauen,
um Selbst- und gegenseitige Hilfe wieder zum Leben zu erwecken, wenn da
nicht die Tatsache wäre, daß viele Menschen glauben, solcherart
Improvisation wäre ein demütigendes Eingeständnis dafür,
daß man im neuen System versagt habe. Im neuen System kann das, was
man braucht, im Geschäft gekauft werden - wenn man die Jobs dafür
und das Geld zum Bezahlen hat.
Leider können viele Menschen nicht leicht aus der
chronischen Verzweiflung ausbrechen, in die sie gefallen sind. Der Vorteil
des alten Systems war, daß es Sicherheit und Regelmäßigkeit
gab. Initiative war nicht gern gesehen, aber auch nicht nötig; zum
Teil, weil man, wenn man tat, was verlangt war, eine durchschnittliche
Existenz hatte und der Tagesablauf für einen bestimmt war. Über
die Zeit hinweg erstickte die Innovation, so daß nach der Wiedervereinigung
die Wirtschaft zerbrochen ist. Die Arbeit verschwand, und dann, statt erwarteter
Verbesserung, stellten die Menschen mit Grauen fest, daß ihr Leben
ruiniert war. Die internatsähnliche Unterbringung und das Wohnumfeld,
die so lange akzeptiert wurden, wie sich das Leben um die Arbeit drehte,
wurden nun als offene Gefängnisse und Notbehelfe betrachtet, jetzt,
wo man keine Wahl hatte als den ganzen Tag zu Hause zu bleiben. Die in
der DDR so häufigen Einheits-Platten-Siedlungen in Schlafstädten
wie Wolfen Nord besitzen so gut wie keine Gemeinde-Einrichtungen, um die
Bedingungen derjenigen zu verbessern, die zu Langzeitarbeitslosigkeit verurteilt
sind. Arbeitslose können es kaum vermeiden, ihre schlechte Stimmung
an Ehepartner und Kinder weiterzugeben.
Die sozialen und psychologischen Probleme können
ohne Arbeit nicht gelöst werden. Wenn Erwerbsarbeit in miteinander
konkurrierenden Industriezweigen nicht zur Verfügung steht, muß
etwas anderes gefunden werden. Meine Bauhof-Kollegen fühlen sich besonders
von dem Gedanken der "New Work" (Neue Arbeit) von Professor Fritjof Bergmann
angezogen. Für Bergmann bedeutet "Neue Arbeit" eine Politik und den
praktischen Kampf, das wirtschaftliche Leben nicht nur um eine, sondern
drei verschiedene Arten von Arbeit zu konzentrieren. Erwerbsarbeit, "Selbstversorgung
auf hohem technischem Niveau" und "Rufen", d.h. Verfolgen dessen, was man
wirklich tun möchte. Bergmann, ein österreichischer Philosophie-Professor
an der Universität von Chicago, der sich in den USA niedergelassen
hatte, hat dieses Konzept angesichts wachsender Arbeitslosigkeit und Automatisierung
entwickelt. Er erarbeitete sein Konzept im Zentrum für Neue Arbeit
als eine Antwort auf die sozialen Krisen, als in Flint bei Chicago die
Beschäftigung in der Automobilindustrie zusammenbrach. (Protokoll
zum Seminar "Neue Arbeit" mit Prof. Frithof Bergmann und Michael Koeppen
am 6./7. Juni 1997 am Bauhaus Dessau)
Daß solcherart "Neue Arbeit" wünschenswert
wäre, scheint mir klar. Die vorhandene Arbeit so zu verteilen, daß
lange Pausen im Arbeitsleben herausgehandelt werden können und damit
auch andere Menschen die Möglichkeit erhalten, Geld zu verdienen,
macht Sinn. Der Gedanke der Selbstversorgung auf hohem technischen Niveau
widerspricht auch nicht den vielen Vorstellungen in diesem Buch; jedoch
würde ich lieber die Worte "Selbstversorgung mit niedriger Energie
und hohem Ertrag" statt "Selbstversorgung auf hohem technischen Niveau"
wählen, da das letzte umweltzerstörerisch sein könnte. Der
Gedanke, daß jeder in seinem Leben auch Zeiten haben sollte, in denen
er das machen kann, was er wirklich will, scheint wie die Feststellung
eines Menschenrechts.
Für mich liegt das Problem nicht darin, daß
"Neue Arbeit" wünschenswert wäre, sondern in der Schwierigkeit,
sie umzusetzen. Ich vertraue nicht sehr darauf wie Bergmann, daß
viele Arbeitgeber offen genug seien, um sein System anzunehmen. Ich denke,
viele werden die Flexibilität, die damit verbunden ist, für kontraproduktiv
halten. Sie werden wahrscheinlich auch nicht mit einem Modell arbeiten
wollen, das den Angestellten mehr Unabhängigkeit gibt. Menschen, die
Zugang zu "einer Selbstversorgung auf hohem technischen Niveau" haben,
würden in der Lage sein, im Falle eines Streiks viel länger durchzuhalten.
Mehr noch, wenn Menschen erst einmal angefangen haben, die Interessen zu
verfolgen "die sie wirklich wollen", werden sie oft keine Lust mehr haben
oder nicht mehr in der Lage sein, sich der Plackerei ihrer einstigen Beschäftigung
zu unterwerfen.
Leider wollen viele Menschen, von denen anzunehmen ist,
daß sie von der "Neuen Arbeit" profitieren würden, sie nicht.
Es gibt eine gewisse Ungeduld bei vielen Menschen, die immer noch an ihrer
alten Orientierung zur Vollzeit-Erwerbsarbeit festhalten und auch dann
nicht loslassen können, wenn diese einfach nicht mehr vorhanden ist.
Konzepte wie die der "Neuen Arbeit" bringen sie regelrecht auf. Im Bauhaus-Journal
"Nursery" beschreibt Dr. Klaus von Plötz, Leiter einer Klinik für
Suchtkrankheiten und sozio-psychosomatische Rehabilitation, die Reaktionen
von Patienten auf das Konzept der "Neuen Arbeit", bei einer Veranstaltung
mit Professor Bergmann. "Diejenigen, die am stärksten betroffen waren,
wurden sehr ärgerlich, sehr, sehr ärgerlich... einige sagten:
"Erzähl' das mal der Regierung in Magdeburg." Andere bestanden darauf:
"Ich brauche eine Arbeit und nichts anderes"... Es wurde deutlich, daß
zumindest zu Beginn das Konzept der "Neuen Arbeit" für die früheren
Ostdeutschen als ein Schritt zurück betrachtet wurde.
Wie bereits erwähnt, wurde damals das Arbeiten unter
eigener Initiative durch die Disziplin des alten Arbeitssystems abgewürgt.
Initiative wurde nicht ermutigt, so daß die Idee des "Tuns, was man
wirklich, wirklich möchte", eine Menge an Wiederentdecken braucht.
Der Kommentar von Dr. von Plötz darüber, wie die Gruppe, mit
der er arbeitete, herausfinden mußte, was Arbeit war oder sein konnte:
-"Fast archäologisch und sorgfältig mußte man vorgehen,
um das kreative Element in dem Konzept wieder zu erzeugen, befreit von
Elementen des Zwangs und der Entfremdung." (Klaus von Plötz, "Neue
Arbeit" im Rahmen einer Klinik für Suchtkrankheiten, In: Nursery,
Zeitung des Bauhaus-Forums: Erneuerbare Regionalentwicklung, September
1997, Nr. 7).
Das Kreativzentrum, das gegenwärtig in Wolfen entwickelt
wird, ist ein anderes praktisches Beispiel , das gut in Bergmanns Modell
passen würde, aber nicht als Teil davon betrachtet werden muß.
Wenn, wie ich vermute, Arbeitgeber der Aufteilung von Erwerbsarbeit nicht
zustimmen, werden Einrichtungen wie das Kreativzentrum bei der Neuorganisation
von Arbeit eine immer zentralere Rolle spielen. Indem Zentren der Selbst-
und gegenseitigen Hilfe immer mehr Möglichkeiten bekommen, werden
sie immer mehr zum Ausdruck der Selbstversorgung und befähigen die
Menschen vielleicht zum Experimentieren, um zu entdecken, "was sie wirklich,
wirklich wollen".
Gemeinde-Do-it-yourself-Zentren
Das Kreativzentrum in Wolfen ist nach dem "Haus der eigenen
Arbeit" in München entstanden. Der rationale Zweck beider Zentren
liegt in der effektiveren Lösung sozialer und ökonomischer Probleme
und hilft damit indirekt den Menschen, sich selbst zu helfen. Viele Menschen
in Umbruchsituationen, wo sich das Muster der Beziehungen in Arbeit und
Umfeld verändert hat oder sich verändern muß, werden Angebote,
der nicht speziell für Menschen in Krisensituationen eingerichtet
wurden, eher nutzen und von ihnen profitieren.
Es ist besser, einen Ort zu nutzen, der jedem zur Verfügung
steht. Auf jeden Fall werden sie dann nicht als schwache und verletzbare
Menschen mit speziellen Bedürfnissen erkannt und stigmatisiert.
Angeboten wird ein Paket, das alle drei Bedürfnisarten
gleichzeitig anspricht: d.h. Verbesserung der Wohnumgebung, von Beziehungen
und Arbeit. Menschen in einer Krise haben, wie wir es bereits gesehen haben,
das Bedürfnis, neue Richtungen im Sinne von neuen Beziehungen oder
einem besseren Wohnumfeld, zu finden, sowie neue Richtungen, was Arbeit
und Einkommen angeht. Ein Gemeinde-DIY-Zentrum mit ausgerüsteten Werkstätten
und Personal kann das zur Verfügung stellen. Indem die Mittel zur
Holz- oder Metallbearbeitung, zur Schmuck- und Papierherstellung bereitgestellt
werden, und durch ein Cafe und Kultureinrichtungen können die Menschen
auf der Grundlage gemeinsamer Interessen neue Beziehungen eingehen. Sie
können mit neuen Beschäftigungsperspektiven experimentieren,
wenn sie arbeitslos sind oder ihre Fähigkeiten weiter gebrauchen,
auch wenn sie bereits Rentner sind. Sie können Möglichkeiten
finden, eigene Möbel oder andere Dinge herzustellen, mit denen sie
ihre Wohnung einrichten und verschönern können und dabei Geld
sparen. (Gerd Mutz, Irene Kühnlein, Martine Burda-Viering, Boris Holzer:
Eigenarbeit hat einen Ort. Öffentliche Eigenarbeit im HEI. Ein Forschungsbericht
der Anstiftung mit einem Vorwort von Elisabeth Redler, München 1997).
Ökologische Textilien - das Beispiel von RETEX
In dem bisherigen Überblick, der mehr oder weniger
ein persönlicher Bericht ist, möchte ich nicht den falschen Eindruck
erwecken, daß der gemeinnützige Sektor nur auf Berlin und Ostdeutschland
beschränkt wäre. Auf jeden Fall ist der gemeinnützige Sektor
überall in Großbritannien und Deutschland zu finden und in anderen
Ländern. Als ich zum Beispiel in Deutschland arbeitete, stieß
ich auf ein Bonner Projekt, das sich mit Ökologie und Textilien befaßt.
Das führte mich zu einem Projekt in Regensburg, das ökologische
Textilien herstellte und damit Arbeitsmöglichkeiten für psychisch
kranke Menschen schuf - die Regensburger Initiative zur Schaffung von Arbeitsplätzen
für psychisch Kranke und Behinderte e.V. (RETEX). RETEX recycelt Textilien
und nutzt sie unter anderem zur Teppichherstellung. In vielem stimmt das
Projekt mit dem vorher Geschilderten überein: es gibt die Verbindung
zur Ökologie; die Notwendigkeit, Arbeit bereitzustellen statt nur
darüber zu reden, der kleine Beginn und die Fehlstarts, die starke
Abhängigkeit von Zuwendungen aus dem öffentlichen Sektor.
RETEX entstand im März 1985 - 15 Menschen, die im
psychosozialen Bereich tätig waren (Ärzte, Psychologen, Sozialpädagogen,
Pfleger...) kamen zu dem Schluß, daß der Mangel an Arbeitsplätzen
nach Abschluß der Behandlung dazu führte, daß Rückfälle
praktisch vorprogrammiert waren.
"Anfangs wurde zur Konzeptentwicklung eine Sozialpädagogenstelle
vom Arbeitsamt finanziert, weitere öffentliche Mittel gab es keine.
Geld wurde über Flohmärkte, Aktionen und Feste beschafft. Ein
Konzept für ein Tagescafe wurde wieder aufgegeben und dafür die
Idee für Textilrecycling weiterentwickelt. Im August 1986 kam es schließlich
zur Eröffnung einer kleinen Nähwerkstatt mit einer Schneiderin
und drei psychisch Kranken."
Aus diesem kleinen Anfang hat sich die Firma so entwickelt,
daß jetzt 64 Menschen bei RETEX arbeiten, 49 davon auf sozialversicherten
Arbeitsplätzen, 5 in Arbeitstherapie, 4 Aushilfen, 2 Zivildienstleistende
und 4 Zuverdienstkräfte (, die Erwerbsunfähigkeitsrente beziehen).
Zum Trägerverein gehören ca. 70 Menschen, von denen ca. 15 Mitglieder
regelmäßig ehrenamtlich tätig sind. Zu 65 % ihrer Einnahmen
ist das Unternehmen jedoch von öffentlichen und europäischen
Geldern abhängig. (Quelle: Schreiben an Marguarita Löbeck - Nottingham
Advocacy Group).
Zusammenfassung
Zusammenfassend kann man sagen, daß der große
Wert und die Relevanz des gemeinnützigen Sektors in einer Reihe von
Charakteristika liegt: 1. Multifunktionalität. Vom Gesichtspunkt des
allgemeinen Nutzens für die Gemeinschaft sind Projekte, die gleichzeitig
ökologische, ökonomische, soziale und Gesundheitsprobleme ansprechen,
im Verhältnis zum Geld, das für Sozialhilfe etc. ausgegeben wird,
rentabel. Vom Gesichtspunkt der Menschen in einer Lebenskrise aus sind
Projekte, die bei menschlichen Beziehungen, dem Wohnumfeld und wirtschaftlichen
Problemen gleichzeitig helfen, von noch größerer Bedeutung.
Sie sind praktischer und arbeiten an den grundlegenderen Themen. 2. Empowerment.
Viele Projekte, insbesondere die, die klein beginnen, werden von den Bedürftigen
selbst entwickelt und gesteuert und geben den Bedürftigenn selbst
die Möglichkeit, Machtstrukturen für ihre eigenen Bedürfnisse
zu übernehmen. Indem die Menschen zeigen, was sie können, nehmen
solche Projekte auch das Stigma von Benachteiligten und brechen die Vorurteile
auf, die über sie in der Öffentlichkeit und unter Sozialarbeitern
herrschen. Wenn solche Menschen ihre eigenen Projekte entwickeln, sind
sie auch eher empathisch und fühlen mit denen, die die gleichen Probleme
haben wie sie selbst. 3. Soziale Integration. Indem den Menschen eine Chance
gegeben wird, sich zu beweisen, und indem sie mit Fachleuten (z.B. Ökologen,
Techniker) an Problemen arbeiten, die außerhalb der Psychiatrie liegen,
haben Sozialhilfebezieher viel bessere Chancen auf eine soziale Eingliederung
zu gleichen Bedingungen, ohne immer wieder die demütigende Erfahrung
zu machen, von den Sozialarbeitern wie von Anstandsdamen beobachtet zu
werden.
Leider ist es nicht möglich, daß ein Projekt
all diese Kennzeichen in sich vereint. Der Raum für Empowerment scheint
in eher formal organisierten Projekten wie Atlantis oder RETEX geringer
zu sein, unter anderem deshalb, weil sie größer sind und/oder
im Markt operieren, außerdem haben sie eine andere Geschichte, weil
sie von normalen Arbeitern ins Leben gerufen wurden). Solche Projekte bieten
mehr in Bezug auf formelle Erwerbsarbeit und Ausbildung. Im Gegensatz gibt
es in kleineren Projekten wie Ecoworks oder den Tauschbörsen, die
von ehemaligen Patienten ins Leben gerufen worden sind oder in einigen
der Nachbarschaftsprojekte mehr Raum für individuelle Arbeit und kollektive
Initiative. In diesem Sinne haben diese Art von Projekten mehr auf dem
Gebiet des Empowerments anzubieten.
Beide Arten von Organisationen werden gebraucht. Wir
können vielleicht das Konzept der "Neuen Arbeit" von Fritjof Bergmann
übernehmen. Ehemalige Nutzer der Psychiatrie müssen in der Lage
sein, Geld zu verdienen und mehr in die traditionelle Wirtschaft integriert
werden - das ideale Setting dafür wäre in eher formal organisierten
größeren, gemeinnützigen Unternehmen, die ernsthaft versuchen,
auf breiter Basis ökologische Probleme mit Technologien anzugehen,
die nicht in den kleineren DIY-Zentren oder Nachbarschaftsorganisationen
entwickelt und eingesetzt werden können. Diese Menschen müssen
auch in der Lage sein, die Produktivität ihrer Selbstversorgungs-
und häuslichen Arrangements zu verbessern - ein Gebiet, auf dem besonders
die DIY-Projekte, die Tauschbörsen und Projekte wie Ecoworks viel
zu bieten haben. Die Erfahrung von beiderart Arbeit ist nötig, um
zu erfahren, was "man wirklich, wirklich tun möchte".
© BRIAN DAVEY